Der sogenannte Erlaubnistatbestandsirrtum gehört zu den wichtigsten und zugleich meistdiskutierten Irrtumsformen im Strafrecht. Er ist vor allem in der juristischen Ausbildung von großer Relevanz, wird aber auch in der gerichtlichen Praxis immer wieder bedeutsam – insbesondere bei Gewalt-, Notwehr- und Eingriffsdelikten, in denen sich Täter auf eine vermeintliche Rechtfertigungslage berufen. Beim Erlaubnistatbestandsirrtum geht der Täter tatsächlich irrig davon aus, dass eine Rechtfertigungssituation vorliegt, obwohl diese objektiv nicht gegeben ist. Das bedeutet: Der Täter kennt zwar die rechtlichen Rahmenbedingungen (zum Beispiel die Voraussetzungen der Notwehr), wendet sie aber auf einen nicht existierenden Sachverhalt an. Die strafrechtliche Behandlung dieses Irrtums ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten und wird abhängig vom gewählten Irrtumsmodell unterschiedlich gelöst.
Begriffsbestimmung und Abgrenzung
Der Erlaubnistatbestandsirrtum ist vom Verbotsirrtum (§ 17 StGB) und vom Tatbestandsirrtum (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB) abzugrenzen:
Beim Tatbestandsirrtum irrt sich der Täter über objektive Merkmale des gesetzlichen Tatbestands – zum Beispiel hält er ein fremdes für ein eigenes Fahrrad.
Beim Verbotsirrtum kennt der Täter zwar alle Tatsachen, weiß aber nicht, dass sein Verhalten verboten ist.
Beim Erlaubnistatbestandsirrtum hingegen kennt der Täter zwar den verbotenen Charakter der Handlung, glaubt aber fälschlich, dass eine Rechtfertigung vorliegt, etwa eine Notwehrsituation.
Beispiel:
Ein Autofahrer sieht eine Person mit erhobenem Stock auf einen anderen zulaufen und greift gewaltsam ein, um einen vermeintlichen Angriff abzuwehren – tatsächlich handelte es sich nur um ein harmloses Spiel. Der Täter glaubt irrtümlich, eine Notwehrlage liege vor.
Rechtliche Einordnung: § 16 oder § 17 StGB?
Die Frage, ob der Erlaubnistatbestandsirrtum unter § 16 StGB (Tatbestandsirrtum) oder unter § 17 StGB (Verbotsirrtum) fällt, ist entscheidend für die Strafbarkeit des Täters. Dabei konkurrieren zwei große Theorien:
Die herrschende Meinung (eingeschränkte Schuldtheorie): Die herrschende Meinung (h.M.) geht davon aus, dass der Erlaubnistatbestandsirrtum wie ein Tatbestandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zu behandeln ist – obwohl sich der Irrtum nicht auf den Straftatbestand, sondern auf den Rechtfertigungsgrund bezieht. Diese Auffassung begründet sich wie folgt:
Der Täter handelt vorsatzlos, weil er bei Kenntnis der wahren Sachlage nicht gehandelt hätte.
Die Rechtfertigungsgründe werden wie „negative Tatbestandsmerkmale“ behandelt, weshalb der Irrtum über sie wie ein Tatbestandsirrtum zu behandeln ist.
Folge: Der Täter handelt ohne Vorsatz → Straflosigkeit, sofern kein Fahrlässigkeitstatbestand erfüllt ist.
Beispiel:
Ein Jäger schießt auf einen vermeintlichen Wolf, der in Wahrheit ein Hund ist – in der irrigen Annahme, er dürfe zum Schutz von Wildtieren eingreifen. Die Tat ist zwar objektiv rechtswidrig, aber der Täter glaubte irrig, gerechtfertigt zu sein – nach herrschender Meinung fehlt ihm der Vorsatz.
Die Gegenmeinung (strenge Schuldtheorie): Die strenge Schuldtheorie behandelt den Erlaubnistatbestandsirrtum als Verbotsirrtum nach § 17 StGB:
Der Täter handelt vorsätzlich, kennt den Straftatbestand und weiß, was er tut.
Er irrt sich lediglich über die rechtliche Zulässigkeit seines Handelns.
Folge: Strafbar, es sei denn, der Irrtum war unvermeidbar.
Diese Ansicht ist jedoch nicht herrschend in Rechtsprechung und Literatur, da sie in vielen Fällen zu einer unverhältnismäßigen Strafbarkeit führen würde – insbesondere in Situationen, in denen der Irrtum tatsächlicher Natur ist.
Prüfung des Erlaubnistatbestandsirrtums in der Klausurpraxis
In der juristischen Prüfung wird der Erlaubnistatbestandsirrtum meist im Anschluss an die Prüfung des subjektiven Tatbestands (Vorsatz) oder im Bereich der Rechtfertigungsgründe thematisiert.
Prüfungsschema:
Tatbestand:
Objektiver und subjektiver Tatbestand
Rechtswidrigkeit:
Kein objektiv vorliegender Rechtfertigungsgrund
Irrtum über das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes
Behandlung nach h.M.:
Vorsatz entfällt nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB
Täter handelt schuldhaft nur, wenn fahrlässige Begehung strafbar ist
Behandlung nach a.A.:
Täter handelt vorsätzlich
Schuld entfällt nur bei unvermeidbarem Irrtum (§ 17 StGB)
Besonderheiten bei einzelnen Rechtfertigungsgründen
Der Erlaubnistatbestandsirrtum ist vor allem relevant bei:
Notwehr (§ 32 StGB)
Der Täter glaubt irrtümlich an einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff.
Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB)
Der Täter glaubt, ein gegenwärtige Gefahr sei vorhanden, die sein Eingreifen rechtfertige.
Einwilligung (§ 228, § 216 StGB analog)
Der Täter geht fälschlich von einer Einwilligung des Opfers aus.
Rechtsprechung zum Erlaubnistatbestandsirrtum
Die deutsche Rechtsprechung folgt grundsätzlich der herrschenden Meinung. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mehrfach klargestellt, dass ein Täter, der tatsächlich irrig von einer Rechtfertigungslage ausgeht, vorsatzlos handelt und nur dann bestraft werden kann, wenn ein Fahrlässigkeitstatbestand gegeben ist.
BGHSt 16, 124 („Irrtum über Notwehrlage“)
Ein Fall, in dem der Täter glaubte, in einer Notwehrlage zu handeln. Der BGH stellte klar: Bei einem tatsächlichen Irrtum über das Vorliegen einer Notwehrlage entfällt der Vorsatz.
Fazit
Der Erlaubnistatbestandsirrtum gehört zu den wichtigsten Irrtumsarten im deutschen Strafrecht. Er liegt vor, wenn der Täter fälschlich glaubt, sich in einer rechtfertigenden Situation zu befinden. Nach herrschender Meinung entfällt in solchen Fällen der Vorsatz (§ 16 StGB), da der Täter tatsächlich falsch liegt – es fehlt ihm somit am „Willen zur Unrechtsverwirklichung“. In der Praxis ist insbesondere die Abgrenzung zum Verbotsirrtum sowie die Frage nach der Vermeidbarkeit entscheidend für die Strafbarkeit des Täters.