Der Notstand ist ein zentraler Begriff des deutschen Strafrechts, der in extremen Gefahrensituationen das Handeln eines Menschen rechtfertigen oder entschuldigen kann. Er greift dann, wenn jemand eine eigentlich verbotene Handlung vornimmt, um ein höherwertiges Gut – etwa Leben oder Gesundheit – zu schützen. Das Strafgesetzbuch unterscheidet dabei zwischen dem rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) und dem entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB). Beide Regelungen haben das Ziel, in außergewöhnlichen Notlagen menschliches Verhalten nachvollziehbar und rechtlich einzuordnen.
Was bedeutet Notstand im strafrechtlichen Sinne?
Im Kern beschreibt der Notstand eine Situation, in der eine Person eine rechtswidrige Handlung begeht, um eine drohende Gefahr von sich oder anderen abzuwenden. Das Gesetz erkennt an, dass es in bestimmten Extremlagen gerechtfertigt sein kann, ein geringeres Übel in Kauf zu nehmen, um ein bedeutenderes Rechtsgut zu schützen. Beispielhaft: Jemand schlägt die Scheibe eines Autos ein, um ein eingeschlossenes Kind zu retten. Formal betrachtet liegt eine Sachbeschädigung vor – doch durch den Notstand ist diese Handlung unter Umständen gerechtfertigt.
Abgrenzung: Rechtfertigender vs. entschuldigender Notstand
Das Strafgesetzbuch unterscheidet zwei Formen des Notstands:
- Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB): Die Handlung ist nicht rechtswidrig, da sie zum Schutz höherwertiger Güter erfolgt. Das geschützte Interesse muss das beeinträchtigte wesentlich überwiegen. Beispiel: Das Einschlagen einer Fensterscheibe, um einen Brand zu löschen und Leben zu retten.
- Entschuldigender Notstand (§ 35 StGB): Die Handlung bleibt zwar rechtswidrig, der Täter wird aber nicht bestraft, weil er sich in einer ausweglosen Situation befand, in der er ein ihm oder Angehörigen drohendes erhebliches Übel abwenden wollte.
In beiden Fällen erkennt das Gesetz an, dass in einer Ausnahmesituation moralisch nachvollziehbare Gründe bestehen können, rechtliche Grenzen zu überschreiten.
Der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB)
Der rechtfertigende Notstand ist in § 34 des Strafgesetzbuches geregelt. Er erlaubt es, eine sonst strafbare Tat zu begehen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
- Es besteht eine gegenwärtige Gefahr für ein geschütztes Rechtsgut wie Leben, Gesundheit, Eigentum, Freiheit oder Ehre.
- Die Tat ist geeignet und erforderlich, um die Gefahr abzuwenden.
- Das geschützte Interesse überwiegt das beeinträchtigte Interesse wesentlich.
- Die Handlung ist ein angemessenes Mittel, um die Gefahr zu beseitigen.
Mit anderen Worten: Wer eine Straftat begeht, um eine drohende Katastrophe oder einen gravierenden Schaden zu verhindern, handelt unter Umständen rechtmäßig. Das Gesetz verlangt dabei stets eine Interessenabwägung – das geschützte Gut (z. B. ein Menschenleben) muss höherwertig sein als das beeinträchtigte (z. B. fremdes Eigentum).
Beispiele aus der Praxis
In der Rechtsprechung wird der rechtfertigende Notstand häufig in folgenden Konstellationen diskutiert:
- Ein Autofahrer überfährt eine rote Ampel, um einen Schwerverletzten ins Krankenhaus zu bringen.
- Ein Passant dringt in ein brennendes Gebäude ein, um jemanden zu retten.
- Ein Tierhalter tötet ein gefährliches Tier, das Passanten bedroht.
In diesen Fällen wird geprüft, ob die Gefahr tatsächlich gegenwärtig war und ob das Eingreifen verhältnismäßig war. Ist dies gegeben, entfällt die Strafbarkeit vollständig – die Handlung gilt als gerechtfertigt.
Der entschuldigende Notstand (§ 35 StGB)
Der § 35 StGB betrifft Fälle, in denen der Täter eine Straftat begeht, um eine Gefahr für sich, nahe Angehörige oder nahestehende Personen abzuwenden. Hier bleibt die Tat rechtswidrig, doch der Täter handelt ohne Schuld. Die Strafe entfällt also.
Die Voraussetzungen sind:
- Eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit,
- eine Handlung, die zur Abwendung dieser Gefahr erforderlich ist,
- und die Gefahr betrifft den Täter selbst, einen Angehörigen oder eine ihm nahestehende Person.
Ein klassisches Beispiel: Eine Person fährt ohne Führerschein, um ihre verletzte Tochter ins Krankenhaus zu bringen. Zwar ist das Fahren ohne Fahrerlaubnis strafbar, doch in dieser Notlage wäre es unmenschlich, eine Strafe zu verhängen. Das Gesetz erkennt die emotionale Ausnahmesituation an und entschuldigt das Verhalten.
Notstand, Notwehr und übergesetzlicher Notstand
Oft wird der Notstand mit der Notwehr (§ 32 StGB) verwechselt. Beide Begriffe sind jedoch klar zu unterscheiden: Notwehr richtet sich gegen einen menschlichen Angriff, während der Notstand eine allgemeine Gefahr betrifft – also etwa Feuer, Sturm, Krankheit oder technische Defekte.
Daneben existiert der sogenannte übergesetzliche Notstand, der nicht ausdrücklich im Gesetz steht, aber von der Rechtsprechung in extremen Fällen anerkannt wurde. Hierzu gehören moralische Dilemmata, in denen keine gesetzliche Regelung greift, etwa das klassische Beispiel des „Rettungsboots“, bei dem ein Handeln notwendig ist, um mehrere Leben zu retten, während ein anderes geopfert wird. Solche Fälle sind jedoch äußerst selten und stets individuell zu bewerten.
Rechtliche Bedeutung in der Praxis
Für Verteidiger ist der Notstand ein wichtiges Werkzeug, um Mandanten in scheinbar ausweglosen Situationen zu schützen. Im Ermittlungsverfahren kann der Hinweis auf eine Notstandslage dazu führen, dass das Verfahren eingestellt oder der Angeklagte freigesprochen wird. Besonders im Verkehrs- oder Drogenstrafrecht spielen Notstandskonstellationen eine Rolle – etwa bei unvorhersehbaren medizinischen Notfällen oder bei Handlungen zur Lebensrettung.
Die Kanzlei Wederhake berät Mandanten bundesweit, insbesondere in München, bei allen Fragen rund um Notstand, Notwehr und strafbefreiende Rechtfertigungsgründe. Durch fundierte Analyse und präzise Argumentation kann eine Verurteilung in vielen Fällen vermieden werden.
Fazit: Menschlichkeit im Recht
Der Notstand steht für einen zentralen Grundgedanken des Strafrechts: dass Recht nicht starr ist, sondern die menschliche Situation berücksichtigt. Wer in einer extremen Gefahrenlage handelt, um Leben oder bedeutende Rechtsgüter zu retten, soll nicht bestraft werden. Ob rechtfertigend oder entschuldigend – beide Formen des Notstands zeigen, dass das Strafrecht in besonderen Momenten Mitgefühl und Vernunft zulässt.
