Offizialdelikte sind Straftaten, bei denen die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet sind, ein Ermittlungsverfahren unabhängig vom Willen des Opfers von Amts wegen einzuleiten. Diese Delikte unterliegen dem sogenannten Legalitätsprinzip, das die Staatsanwaltschaft zur Verfolgung jeder bekannt gewordenen Straftat verpflichtet. Der Begriff ist von zentraler Bedeutung für das deutsche Strafprozessrecht und beschreibt eine der tragenden Säulen der Strafverfolgung.
Definition und Wesen der Offizialdelikte
Ein Offizialdelikt liegt vor, wenn ein strafbares Verhalten von staatlichen Behörden ohne Strafantrag oder ausdrückliches Verlangen des Geschädigten verfolgt wird. Sobald ein Anfangsverdacht besteht, muss die Polizei bzw. die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren einleiten. Ziel ist es, die öffentliche Ordnung und das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit zu schützen – unabhängig von individuellen Interessen.
Rechtliche Verankerung von Offizialdelikten
Die rechtliche Grundlage findet sich im § 152 Abs. 2 StPO:
„Soweit zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, ist die Staatsanwaltschaft zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens verpflichtet.“
Dies bedeutet, dass bei einem Anfangsverdacht kein Ermessen besteht – die Strafverfolgung ist zwingend. Eine Strafanzeige durch Dritte (z. B. Polizei, Zeugen, anonyme Hinweise) reicht hierfür aus.
Abgrenzung zu Antrags- und Privatdelikten
Offizialdelikte unterscheiden sich klar von:
- Antragsdelikten (z. B. Hausfriedensbruch, einfache Körperverletzung): Hier ist ein Strafantrag des Geschädigten notwendig.
- Privatdelikten (z. B. Beleidigung unter bestimmten Voraussetzungen): Diese müssen durch Privatklage verfolgt werden.
Bei Offizialdelikten ist die Staatsanwaltschaft zur Strafverfolgung verpflichtet – selbst gegen den ausdrücklichen Wunsch des Opfers.
Beispiele für Offizialdelikte im Strafrecht
Typische Offizialdelikte sind unter anderem:
Mord und Totschlag (§§ 211, 212 StGB)
Ein klassisches Offizialdelikt ist der Mord gemäß § 211 StGB. Auch Totschlag (§ 212 StGB) wird ohne Strafantrag automatisch verfolgt.
Beispiel: Eine Person ersticht im Affekt ihren Lebenspartner während eines Streits.
Auch wenn Angehörige keine Anzeige erstatten, wird die Tat von der Staatsanwaltschaft von Amts wegen verfolgt. Gleiches gilt für geplante Tötungen, etwa im Rahmen organisierter Kriminalität. Mord- und Totschlagdelikte stehen unter dem höchsten staatlichen Strafverfolgungsinteresse.
Raub und Erpressung (§§ 249 ff. StGB)
Raub ist eine qualifizierte Form der Wegnahme unter Einsatz von Gewalt oder Drohung, § 249 StGB. Erpressung (§ 253 StGB) verlangt das widerrechtliche Fordern unter Zwang.
Beispiel: Zwei maskierte Täter überfallen einen Supermarkt, bedrohen die Kassiererin mit einer Schusswaffe und entwenden Bargeld. Selbst wenn der Supermarkt auf eine Anzeige verzichtet, wird die Tat durch die Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgt.
Auch subtilere Formen der Erpressung – etwa das Androhen der Veröffentlichung kompromittierender Bilder zur Erzwingung von Geldzahlungen – werden unabhängig vom Opferwillen verfolgt, sobald ein Anfangsverdacht besteht.
Sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB)
Der Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen gehört zu den wichtigsten Anliegen des deutschen Strafrechts. Der sexuelle Missbrauch Minderjähriger wird stets von Amts wegen verfolgt.
Beispiel: Eine Lehrerin bemerkt verdächtige Verhaltensänderungen bei einem Schüler. Im Rahmen eines Gespräches vertraut sich der Junge an und berichtet von sexuellen Übergriffen durch eine ihm nahestehende Person.
Selbst wenn die Erziehungsberechtigten oder das Kind keine Strafanzeige stellen, ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Es besteht ein erhebliches öffentliches Interesse an der Aufklärung und Strafverfolgung solcher Taten.
Schwere Körperverletzung (§ 226 StGB)
Körperverletzungen mit besonders gravierenden gesundheitlichen Folgen werden automatisch verfolgt. Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen Opfer dauerhaft geschädigt oder entstellt werden.
Beispiel: Nach einem Streit schlägt ein Täter seinem Gegenüber mit einer Glasflasche auf den Kopf. Das Opfer verliert ein Auge und ist dauerhaft sehbehindert.
Die Staatsanwaltschaft leitet unabhängig vom Wunsch des Opfers ein Ermittlungsverfahren ein, da die Tat eine schwere Körperverletzung darstellt. Auch in Fällen häuslicher Gewalt wird bei entsprechenden Verletzungsfolgen eine Offizialverfolgung eingeleitet.
Drogenhandel (§§ 29 ff. BtMG)
Der unerlaubte Handel mit Betäubungsmitteln stellt eine massive Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar und ist ein typisches Offizialdelikt.
Beispiel: Bei einer routinemäßigen Verkehrskontrolle wird im Kofferraum eines Fahrzeugs eine größere Menge Kokain gefunden.
Obwohl der Fahrer keine Aussagen macht und niemand Anzeige erstattet hat, wird die Staatsanwaltschaft tätig. Besonders bei bandenmäßiger oder gewerbsmäßiger Begehung (§ 30, § 30a BtMG) wird mit hoher Intensität ermittelt.
Volksverhetzung (§ 130 StGB)
Volksverhetzende Inhalte gefährden den gesellschaftlichen Frieden und die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Sie werden daher stets als Offizialdelikt verfolgt.
Beispiel: In einem Onlineforum ruft ein Nutzer öffentlich zur Gewalt gegen religiöse Gruppen auf. Ein Dritter meldet den Vorfall, ohne selbst betroffen zu sein.
Die Staatsanwaltschaft prüft umgehend, ob der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt ist, und leitet ein Verfahren ein. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich tatsächlich jemand formell beschwert – der Schutz der Allgemeinheit steht im Vordergrund.
Brandstiftung (§§ 306 ff. StGB)
Brandstiftung ist wegen der hohen Gefährdung für Leben, Gesundheit und Sachwerte ein Offizialdelikt.
Beispiel: In einem Mehrfamilienhaus legt ein Bewohner im Keller Feuer, um Versicherungsleistungen zu erschleichen.
Obwohl der Brand rechtzeitig gelöscht wird und niemand zu Schaden kommt, wird die Tat umfassend verfolgt. Bereits das Inbrandsetzen eines fremden Gebäudes reicht aus, um ein Ermittlungsverfahren wegen schwerer Brandstiftung einzuleiten.
Diese Straftaten betreffen überindividuelle Rechtsgüter und haben häufig eine erhebliche Bedeutung für die Allgemeinheit.
Verfahrensrechtliche Besonderheiten bei Offizialdelikten
Sobald ein Offizialdelikt bekannt wird, sind Polizei und Staatsanwaltschaft zur Sachverhaltsaufklärung verpflichtet. Das Verfahren kann nicht durch Rücknahme des Anzeigenden beendet werden. Auch ein möglicher Vergleich zwischen Täter und Opfer hat auf die Pflicht zur Strafverfolgung keinen Einfluss.
Darüber hinaus ist es möglich, dass Offizialdelikte mit Antragsdelikten kombiniert auftreten – in solchen Fällen werden dennoch alle Tatbestände gemeinsam untersucht.
Fazit: Offizialdelikte und das Legalitätsprinzip im Strafrecht
Offizialdelikte bilden das Fundament der staatlichen Strafverfolgung und unterliegen dem Grundsatz: „Wo ein Anfangsverdacht besteht, muss der Staat handeln.“ Sie sind Ausdruck des öffentlichen Interesses an der Ahndung besonders schwerwiegender Straftaten. Die klare Trennung zwischen Offizial-, Antrags- und Privatdelikten gewährleistet ein transparentes und rechtssicheres Strafverfolgungssystem.