Das deutsche Strafrecht kennt nicht nur das strafbare Tun, sondern auch das strafbare Unterlassen. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass nur derjenige strafbar ist, der aktiv etwas Verbotenes tut. In Wahrheit kann sich auch derjenige strafbar machen, der in einer rechtlich gebotenen Situation nichts tut, obwohl von ihm Handeln erwartet wird. In solchen Fällen spricht man von einem tatbestandsmäßigen Unterlassen. Dieses ist insbesondere in § 13 StGB geregelt – dem zentralen Paragrafen zur Garantenstellung im deutschen Strafrecht. Besondere Bedeutung hat das strafbare Unterlassen etwa bei der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB), aber auch bei Tötungsdelikten durch Unterlassen oder bei der Nichtverhinderung von Straftaten trotz Garantenpflicht. Das strafbare Unterlassen ist vor allem für Ärzte, Eltern, Pflegepersonal, Lehrer, aber auch im Straßenverkehr und bei Notfällen von erheblicher Relevanz.
Gesetzliche Grundlagen
§ 13 Abs. 1 StGB – Begehen durch Unterlassen
„Wer es unterlässt, einen tatbestandsmäßigen Erfolg abzuwenden, obwohl er rechtlich dafür einzustehen hat (Garantenstellung), wird nach dem Gesetz bestraft, wenn das Unterlassen dem aktiven Tun gleichsteht.“
Das Gesetz behandelt also bestimmte Fälle des Nicht-Handelns genauso wie das aktive Verursachen eines tatbestandsmäßigen Erfolges – vorausgesetzt, der Täter hätte handeln müssen und können.
Arten des Unterlassens
Im Strafrecht wird zwischen echtem und unechtem Unterlassen unterschieden:
Echtes Unterlassungsdelikt: Der Tatbestand selbst verlangt ein Unterlassen, z. B. bei § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung). Hier ist das bloße Nicht-Handeln bereits strafbegründend.
Unechtes Unterlassungsdelikt: Der Straftatbestand richtet sich eigentlich gegen aktives Tun, wird aber auf das Unterlassen analog angewendet, wenn eine sogenannte Garantenstellung besteht (§ 13 StGB).
Beispiel: § 323c StGB – Unterlassene Hilfeleistung
„Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“
Es handelt sich hierbei um ein echtes Unterlassungsdelikt.
Beispiel: Eine Person sieht, wie ein Fußgänger bei einem Verkehrsunfall verletzt wird, bleibt aber stehen und ruft keinen Notarzt, obwohl ein Handy griffbereit ist. Das Nichthandeln ist in diesem Fall strafbar, da der Betroffene zur Hilfe verpflichtet gewesen wäre und diese zumutbar gewesen wäre.
Unechte Unterlassungsdelikte nach § 13 StGB
Hier ist das Unterlassen nur dann strafbar, wenn eine Garantenpflicht besteht. Die wichtigsten Fallgruppen sind:
Beschützergarantenstellung
Pflicht zum Schutz bestimmter Rechtsgüter, z. B.:
Eltern gegenüber ihren Kindern
Ärzte gegenüber Patienten
Lehrer gegenüber Schülern
Ehegatten in engen Gemeinschaften
Überwachergarantenstellung
Pflicht zur Sicherung einer Gefahrenquelle, z. B.:
Halter eines gefährlichen Hundes
Fahrzeugführer
Betreiber eines Unternehmens
Beispiel (unechtes Unterlassen): Ein Vater sieht, wie sein Kleinkind in einem Gartenteich zu ertrinken droht, greift aber nicht ein – etwa aus Gleichgültigkeit. Das Kind stirbt. Das Nichthandeln stellt ein Tötungsdelikt durch Unterlassen (§ 212 i.V.m. § 13 StGB) dar.
Prüfungsschema für unechtes Unterlassungsdelikt
Tatbestand des Delikts: Erfolgseintritt (z. B. Tod, Körperverletzung, Schaden)
Unterlassen einer möglichen Verhinderung: Der Täter hätte den Erfolg verhindern können
Garantenstellung: Der Täter war rechtlich verpflichtet, einzuschreiten
Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen (§ 13 StGB): Das Unterlassen ist einem aktiven Tun gleichwertig
Kausalität und objektive Zurechnung: Das Unterlassen war für den Erfolg ursächlich
Vorsatz (bzw. Fahrlässigkeit bei fahrlässigen Delikten)
Strafbarkeit bei fahrlässigem Unterlassen
Auch fahrlässiges Unterlassen kann strafbar sein, z. B.:
Voraussetzung: Der Täter hätte bei pflichtgemäßem Verhalten den Erfolg vermeiden können und objektiv sowie subjektiv pflichtwidrig nicht gehandelt.
Rechtsprechung und Praxisrelevanz
Die Gerichte setzen die Garantenpflicht regelmäßig voraus bei:
Notfällen im Straßenverkehr
Versäumten Aufsichtspflichten bei Kleinkindern
Verletzungen der Berufspflicht durch medizinisches Personal
BGH NStZ 2017, 589: Ein Arzt, der eine lebensbedrohliche Fehldiagnose nicht korrigiert, obwohl ihm Hinweise auf eine falsche Einschätzung vorliegen, kann sich wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen strafbar machen.
Fazit
Das tatbestandsmäßige Unterlassen ist ein zentraler, aber häufig unterschätzter Bestandteil des Strafrechts. Es greift immer dann, wenn jemand rechtlich verpflichtet gewesen wäre, zu handeln, und der Erfolgseintritt durch rechtzeitiges Eingreifen vermeidbar gewesen wäre. Während bei echten Unterlassungsdelikten (z. B. § 323c StGB) bereits jeder Bürger unter bestimmten Umständen handeln muss, ist bei unechten Unterlassungsdelikten eine spezielle Garantenstellung erforderlich.